Wälder roden oder Häuser abreissen?
28. März 2022
von Michael Müller
Der Chefökonom einer grossen Schweizer Bank, hat vor einiger Zeit einen radikalen Vorschlag gemacht: Macht Wälder zu Bauland! Und setzt auf Beton statt auf Grünflächen! So liesse sich das drängendste Problem im Immobiliensektor lösen – der Mangel an Bauland. Die erwartete ökonomische Konsequenz: Ein grösseres Angebot führt zu tieferen Preisen. Dadurch können sich wieder mehr Menschen Wohneigentum in der Schweiz leisten.
Ich persönlich finde den Vorschlag zu radikal. Wälder abholzen und Grünflächen überbauen, nur um Wohnsiedlungen und neue Wohnquartiere errichten zu können? Das kann es meiner Meinung nach nicht sein. Und dass Erholungssuchende für das «Wald-Erlebnis» bald ins Metaversum ausweichen müssen? Für mich ein unvorstellbarer Gedanke. Neben den radikalen Forderungen kommen im Blick-Artikel aber auch Aspekte zur Sprache, denen ich vollkommen zustimme. So zum Beispiel: Die Raumplanung in der Schweiz muss generell überdacht werden. Und: Es soll mehr verdichtet werden, nicht nur in den Städten. Oder: Damit Einsprachen baubewilligte Bauvorhaben nicht verhindern können, braucht es eine Beschränkung der Rekursmöglichkeiten.
Durch Abreissen und Verdichten schneller CO2-neutral werden
Machen wir mal die Probe aufs Exempel und überprüfen die Thesen von Martin Nef an einem konkreten Beispiel. Hierzu greifen wir auf den beliebtesten Jedermann der Schweiz zurück – nämlich auf Max Muster, der in unserem Fall Eigentümer einer Liegenschaft aus dem Jahr 1990 ist.
Die Liegenschaft von Herrn Muster ist gut unterhalten, aber in die Jahre gekommen. Die Ölheizung und Bausubstanz entsprechen nicht mehr den heutigen Erwartungen. In diesem Fall kann Max Muster zurzeit drei grundsätzliche strategische Optionen ins Auge fassen:
- Verkauf
- Sanierung
- Rückbau und Neubau oder Aufstockung (lohnt sich nur mit entsprechendem Potenzial
Welche Option die optimale ist, scheint mir klar zu sein: Der Rück- und Neubau – und zwar deutlich in die Höhe – macht am meisten Sinn – sowohl ökologisch als auch ökonomisch. Dazu müsste die Raumplanung aber die Rahmenbedingungen schaffen und es braucht eine Beschränkung der Rekursmöglichkeiten, denn nur so wird es für Max Muster möglich, das alte Haus abzureissen und zeitnah, ohne jahrelange Verzögerung, einen deutlich höheren Ersatzneubau zu realisieren. Die zusätzlichen Geschosse entschädigen Max Muster für den Rückbau der alten Liegenschaft. Damit es jedoch ein Geben und Nehmen ist, muss sich der Bauherr im Gegenzug verpflichten, einen klimaneutralen – noch besser einen klimapositiven – Ersatzneubau zu realisieren. Damit würde ein doppelter Effekt erzielt: Verdichtung und eine gleichzeitige CO2-Reduktion. Der Grundsatz muss sein, dass es sich für alle «lohnt». Das Modell darf von keiner Seite überstrapaziert werden, sonst wird es nicht funktionieren. Neben aktiver Verdichtung und schnellerem Vorwärtskommen bei der CO2-Vermeidung sehe ich aber noch weitere Vorteile.
Nicht nur mehr, sondern auch bessere Wohnungen schaffen
Liegenschaftsbesitzer und Investoren könnten berechenbar und substanziell in eigene Liegenschaften und Portfolios investieren. So würde der Liegenschaftsaltbestand sukzessive erneuert. Das lohnt sich mehr, als am Markt sehr teure Liegenschaften im Rahmen von Bieterverfahren zu kaufen. Es würden zusätzliche Wohnungsangebote durch Aufstockung und Verdichtung entstehen. Die Konsequenz: Die Mietzinsentwicklung würde sich beruhigen. Und es würde dort weitergebaut, wo bereits Infrastruktur vorhanden ist und die Menschen auch wohnen wollen.
Wenn diese Balance gefunden werden könnte, gäbe es nur Gewinner: Die Verknappung von Bauland würde durch die aktive Verdichtung entschärft werden, die Mieten müssten durch die Angebotsausdehnung tendenziell sinken und der Anlagedruck am Immobilienmarkt ginge zurück. Zudem würde die Eigentumsquote steigen. Klar: Dank dieser Tendenzen könnten sich Städte und Ortschaften schneller verändern, aber so eröffnen sich auch neue Chancen.
Herausforderung Schweiz
Jetzt leben wir aber in der Schweiz – in einem Land also, in dem die Raumplanung kompliziert und die Einsprachemöglichkeiten vielfältig sind. Diese breit angelegte «Jekami» ist allerdings ein schlechter Nährboden für Visionen und grosse Würfe. Das gilt auch für mein Konzept, das sich nur mit einer veränderten Raumplanung und weniger Rekursmöglichkeiten umsetzen liesse.
Doch leider haben wir uns zu einer ausgeprägten Neidgesellschaft entwickelt und jede und jeder reklamiert für sich einen persönlichen Rechtsanspruch: Mein Mikrokosmos darf sich unter keinen Umständen verändern! Bloss nicht abreissen und neu bauen. Und sollte es doch jemand versuchen, setze ich alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern! Die rechtlichen Instrumente sind «zum Glück» ja da.
Zudem bin ich mir sicher, dass der Fokus auf «die graue Energie» meiner Vision einen zusätzlichen Strich durch die Rechnung macht. Bereits werden in Zürich Stimmen laut, die fordern, dass Abreissen zur Ausnahme werden soll, denn jeder Abbruch vernichte zu viel graue Energie.
Graue Energie hin oder her – was ich möchte, ist ziemlich einfach. Ich möchte, dass die Wälder, Felder und Landschaften erhalten bleiben und wir im Gegenzug den urbanen Raum intelligent und konsequent nutzen. Damit grün bleibt, was heute noch grün ist. Denn einen undefinierten grüngrauen Einheitsbrei in der ganzen Schweiz – ich persönlich fände das schrecklich. Doch die spannende Frage ist natürlich: Was denken Sie?