Über gemischte Teams und Kuhglocken
21. Dezember 2022
von Michael Müller
Ende des letzten Jahrtausends arbeitete ich als Leiter eines regionalen Architekturbüros, das hauptsächlich Ökonomie- und Spezialbauten errichtete. Eine völlig neue Erfahrung für mich, denn das erste Mal waren meine «Kunden» auch Tiere: Kühe, Rinder, Kälber, Schweine und Hühner!
Das Planen und Bauen von landwirtschaftlichen Gebäuden ist alles andere als trivial. So schreibt das Raumplanungsgesetz vor, dass alle Projekte ausserhalb von Bauzonen den Kantonsbehörden zu unterbreiten sind. Sogar der Bund wirkt mit und in den Tierschutz-Kontrollhandbüchern ist genauestens festgelegt, welche Anforderungen in einem Laufstall für Rinder, in Eberbuchten oder generell in einem Schweinestall erfüllt werden müssen. Das alles macht das Bauen für die Landwirtschaft sehr anspruchsvoll und interessant.
Ein Stall für 100 Kühe
Mein erstes Grossprojekt, damals vor 20 Jahren: Ein Stall für 100 Kühe inklusive Scheune und Remise für einen Betrieb, der eine Million Liter Milch pro Jahr produzierte. Und mein Kunde? Das war der Betriebsinhaber – ein starke und durchaus selbstbewusste «Bauernpersönlichkeit».
Diesem Landwirt war natürlich die Landwirtschaft am wichtigsten: Die Unterbringung seiner XXL-Traktoren, die Betriebsabläufe im Stall und das Wohlergehen seiner Tiere. Der neue Stall musste daher seinen Kühen «passen» und seinen Vierbeinern ein neues «Zuhause» bieten – und das alles in einem eng gesteckten Kostenrahmen. Was meinen Kunden dagegen weniger interessierte: die architektonische Sprache, die Materialisierung und ein wegweisendes Farbkonzept.
Das Praktische mit dem Schönen verbinden
Allerdings gab es ein besonderes Highlight bei diesem Betrieb: Der Bauernhof war umgeben von grossflächigen, leicht abschüssigen Wiesen und das Wohnhaus profitierte von einer grandiosen Aussicht ins Grüne. Und was plante der Bauherr? Er wollte den riesigen Stall, quasi als «Balken», direkt in die wunderschöne Aussicht hineinsetzen. Ihm war das Panorama völlig egal. Viel wichtiger war ihm die Möglichkeit, seine Tiere direkt vom Wohnhaus beobachten zu können.
Meine Herausforderung war demnach, zwei Herzen zusammenzubringen: sein Herz für Tiere. Und mein Herz für gute Bauprojekte. Oder etwas akademischer formuliert: Es galt den betrieblichen Anforderungen an das neue Ökonomiegebäude gerecht zu werden und dabei eine unmögliche Situierung des Neubaus zu vermeiden.
Die Kraft von gemischten Teams nutzen
Ich musste es also schaffen, den eigensinnigen Bauern zu überzeugen, dass er die fantastische Weitsicht nicht ohne Not «verbauen» darf. Denn bei der Auseinandersetzung mit dem Projekt wurde mir rasch klar, dass es Lösungsvarianten gibt, die viel besser waren als die groben Projektideen des Bauherrn. Mit einer Ausnahme: Die freie Sicht auf seine Tiere konnte ich leider nicht garantieren. Doch die war ihm heilig.
Eine komplizierte Ausgangslage also. Und eine, bei der nicht die rationale Begründung zählte, sondern der Faktor Mensch. Denn mir war klar, dass ich allein den starrköpfigen Bauherrn nicht überzeugen konnte. Also schlug ich ihm vor, meine Lösungsvarianten im Beisein seiner Frau zu präsentieren. Schliesslich war der geplante Stallneubau ein bedeutendes «Familien-Projekt», so meine Argumentation. Zu meinem grossen Erstaunen hat er ohne Widerstand eingewilligt.
Der Rest ist Geschichte. Dank dem Mitwirken seiner Frau konnte für die Situierung des Stalls ein sehr guter Kompromiss gefunden werden. So wurde der Weg frei für die Umsetzung der betrieblich besten Lösungsvariante. Schlussendlich führt der Stallneubau daher zu 102 glücklichen Parteien: dem Bauern, seiner Frau und 100 zufriedenen Kühen.
Die Kuhglocke als Ritterschlag
Nach Fertigstellung wurde der Stallneubau mit einem grossen Fest eingeweiht. Als Architekt war ich ebenfalls eingeladen und im Laufe des Abends wurde ich plötzlich auf die Bühne gerufen. Völlig überraschend bekam ich eine Kuhglocke geschenkt. Nicht irgendeine Kuhglocke, sondern eine grosse Treichle mit einem handbestickten und mit Dachshaar eingefassten Riemen und einer schönen Messingschnalle mit persönlicher Widmung. Diese Kostbarkeit hat bis heute einen Ehrenplatz in meinem Zuhause und erinnert mich immer wieder an diese charmante Geschichte – und daran, dass es für erfolgreiche Bauprojekte die Einbindung der unterschiedlichen Anspruchsgruppen braucht, auch bei Bäuerinnen und Bauern.
Was ist eine Treichle?
Gemäss Wikipedia ist Treichle ein schweizerdeutsches Wort für «Kuhglocke». Eine Trychle oder Treichle besteht immer aus gehämmertem Blech. Im Unterschied dazu besteht eine Glocke aus gegossenem Metall. Der Trychleklang wird dadurch scheppernder als Glockenklang; allerdings ist eine Trychle durch diese Bauweise auch wesentlich leichter als eine Glocke und darum auch einfacher über längere Strecken zu tragen.