Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
1. Juli 2022
von Michael Müller

Mitte 2011 habe ich meine 4,5-Zimmer-Wohnung in der Stadt St. Gallen bezogen. Zwei Zimmer waren für meine Kinder eingerichtet, die mich alle vierzehn Tage besuchen sollten. Eigentlich hatte ich einen klaren Plan, wie mein Leben die nächsten Jahre aussehen sollte. Doch meine beiden Söhne – die hatten einen etwas anderen Plan für ihre und meine Zukunft.
Eines Tages standen meine beiden Teenager-Söhne mit ihren Koffern vor meiner Wohnungstür und eröffneten mir: Papa, wir ziehen zu dir! In so einem Moment fällt einem die ganze Verantwortung als Vater auf die Füsse. Klar, es gab für mich nur eine Antwort: «Kommt rein, das werden wir schon irgendwie schaffen.» Da sich meine Tochter entschieden hatte, bei ihrer Mutter zu bleiben, gründeten meine Söhne und ich eine Dreier-WG mit klaren Regeln. Damals ging einer in die Lehre und der andere zur Schule. Und ich hatte einen anspruchsvollen Job als Geschäftsführer in Zürich und ging morgens um 05:30 Uhr zur Wohnungstür hinaus und kam abends um 20:45 Uhr wieder nach Hause. Also beschlossen wir, an den Wochentagen über Handy miteinander zu kommunizieren und uns gegenseitig zu vertrauen. Das Handy wurde so zu meinem Führungsinstrument. Was blieb mir auch anderes übrig, ich war tagsüber in Zürich und meine beiden Jungs in St. Gallen. Die Wochenenden verbrachten wir zu dritt oder, wenn meine Tochter da war, zu viert. Das Wochenendprogramm war vorgegeben: einkaufen, waschen, putzen, kochen, Hausaufgaben machen, lernen, chillen und grillieren.
Das Open-Air-St.-Gallen-Erlebnis
Vater sein, ist ein harter Job; alleinerziehender Vater sein, ist ein knallharter Job! Kids, Job und Haushalt – für mehr hat es bei mir nicht gereicht. Aber was viel wichtiger ist: Ich habe sehr viel gelernt. Zum Beispiel, dass Vertrauen wichtiger ist als Kontrolle. Das zeigte sich, als meine Jungs zum ersten Mal ans Open Air St. Gallen durften. Ich habe die beiden an einem Freitag zum Haupteingang gebracht und abgemacht, dass ich sie um 23:00 Uhr dort auch wieder abhole. Ich wollte, dass sie zu Hause schlafen. Bei meinem ersten Kontrollanruf stellte ich fest, dass beide ihre Handys abgestellt hatten. Natürlich waren sie um 23:00 Uhr nicht wie vereinbart am Haupteingang.
Ich war wütend auf meine Jungs und habe mir Sorgen gemacht! Ich hatte die Kontrolle verloren, aber ich wusste auch, dass ich den beiden vertrauen kann. Am Sonntagabend kamen sie mit dem ÖV nach Hause. Zusammen haben wir das Open-Air-Wochenende aufgearbeitet und abgemacht, dass beim nächsten Open Air das Handy durchgehend eingeschaltet bleibt und beide auf dem Open-Air-Gelände übernachten dürfen! Ich hatte nie wieder Open-Air-Diskussionen mit meinen Söhnen. Denn Kontrolle ist gut, doch Vertrauen ist besser!
Vertrauen als Führungsmethode – gilt das auch fürs Business?
Als Vorgesetzter habe ich meinen Mitarbeitenden immer einen «Vertrauensbonus» geschenkt. Und wenn ich auf meine rund 23 Jahre als Vorgesetzter zurückschaue, bin ich damit immer gut gefahren. In der Regel nutzen Angestellte das geschenkte Vertrauen nicht aus. Im Gegenteil: Meistens habe ich viel Vertrauen und eine grosse Loyalität zurückbekommen. Damit war die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit geschaffen und gerade bei grossen Herausforderungen hat sich das gegenseitige Vertrauen bewährt.
Natürlich darf eine geschäftliche Beziehung nicht nur auf Vertrauen basieren, das birgt Risiken. Zusätzlich braucht es Führung. Und Führung bedeutet auch Kontrolle. Bei einem gefestigten Vertrauensverhältnis werden aber nicht Menschen überwacht, sondern das Erreichen von Zielen und das Erledigen von Aufgaben kontrolliert. Eine derartige positive Kontrolle ist kein Problem, ganz im Gegenteil: Aus Kontrolle wird ein Leiten, Lenken und Zum-Erfolg-Führen. Man kann dazu auch Mitarbeiter*innenentwicklung sagen.
Führen durch Vertrauen
Die Entwicklung von Mitarbeitenden ist eminent wichtig, denn was schon vor 20 Jahren galt, gilt heute noch viel mehr: Gute Mitarbeitende zu finden ist schwierig. Wobei diese Mitarbeitenden immer anspruchsvoller werden.
New Work, Remote Work und die Arbeit in gemischten Teams: Ich persönlich glaube, dass in Zukunft noch flexibler und selbstbestimmter gearbeitet wird. Dadurch steigen aber auch die Anforderungen an die Vorgesetzten. Denn Überwachen und Kontrollieren reicht heute nicht mehr aus, um als Unternehmen oder in Projekten erfolgreich zu sein. Was aber Zukunft hat: ein Führen durch Vertrauen.
Wirklich erfolgreich werden Teams, wenn sie es schaffen, ein solides und gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufzubauen. Und ja, dazu braucht es Charakter, Persönlichkeit, Respekt und Anstand. Wenn eine solche Führungskultur gelingt, macht das die Mitarbeitenden, die Teams und das ganze Unternehmen deutlich erfolgreicher. Davon bin ich überzeugt und das weiss ich aus eigener Erfahrung. Denn Vertrauen wirkt wie positives Doping: Man wächst über sich hinaus, ist leistungsfähiger, macht weniger Fehler und hat mehr Spass beim Machen.
Mein persönliches Fazit
Heute – 11 Jahre später – bin ich sehr stolz auf das, was meine Kinder erreicht haben. Trotz anspruchsvoller Familiensituation und manchen Hochs und Tiefs haben sich meine beiden Söhne und meine Tochter zu feinen Menschen entwickelt. Alle drei stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Und ich bin dankbar, dass ich die drei durch diese intensive Zeit führen und begleiten durfte: Mit ein bisschen Kontrolle. Mit etwas Führung. Und mit ganz viel Vertrauen.